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Medien in Europa: Zahnlos oder Demokratie-Wächter?

von Prof. Dr. Johannes Weberling, Berlin / Frankfurt (Oder)
 
 
 


Das Magazin „Paris-Match“ hatte 2005 berichtet, was allgemein bekannt war. Daß der nunmehr gekrönte Albert II. ein uneheliches Kind habe und dessen Mutter eine togolesische Flugbegleiterin sei. Dessen Mutter gab „Paris-Match“ ein Interview und ließ sich fotografieren. Albert II. klagte daraufhin auf Verletzung der Privatsphäre. Gegen das drakonische Urteil der ersten Instanz – Abdruck einer Gegendarstellung, Veröffentlichung des Urteils auf der ganzen Titelseite des Magazins in 3,5 Zentimeter großen roten Buchstaben, Tragung der Kosten und Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe von 50 000 Euro an Albert II. – ging „Paris-Match“ in die Berufung.

In der Berufungsverhandlung trat der Staatsanwalt auf, was es nach einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) in Frankreich seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. Der Schutz der Privatsphäre Prominenter, in der Öffentlichkeit tätiger Menschen sei wichtiger noch als jener der Durchschnittsbürger, unterstrich der Staatsanwalt. Es gehe nicht um Albert II., sondern um die Kandidaten für die Präsidentenwahl 2007. Eine exemplarische Strafe sei fällig, die ein Zeichen setzen sollte. Das Gericht verurteilte „Paris-Match“ das Urteil zu einem Drittel auf der Titelseite abzudrucken und 5000 Euro Schadensersatz zu zahlen.

Der ungewöhnliche Verlauf der Berufungsverhandlung und das Urteil war in Frankreich branchenweit bekannt. Trotzdem berichteten Medienvertreter laut FAZ aus Angst weder über die Verhandlung noch über das Urteil. Ein Staatsanwalt könne sich einen derartigen Auftritt nicht ohne Rückendeckung des Justizministers leisten. Der Eigentümer von „Paris-Match“, Arnaud Lagardere, sei ein enger Freund des damaligen französischen Innenministers Nicolas Sarkozy und von Staatsaufträgen abhängig.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Bundesrepublik Deutschland im April 2004 wegen der nach seiner Auffassung mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unvereinbaren Billigung der Veröffentlichung von Bildern von Caroline von Hannover durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Diese würden keinen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leisten. Entgegen seiner Pflicht zur Auslegung der Menschenrechtskonvention unter Einbeziehung aller drei großen Presserechtsordnungen in Europa legte der EGMR seiner Entscheidung nur das restriktive französische Verständnis von Pressefreiheit zugrunde.

In Deutschland haben freie Medien dagegen wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Presse- und Rundfunkfreiheit für die Existenz einer wirklich freiheitlich demokratischen Gesellschaft eine besondere Stellung innerhalb der Rechtsordnung. Laut Bundesverfassungsgericht wird die Pressefreiheit zwar durch die allgemeinen Gesetze begrenzt. Diese seien aber ihrerseits im Hinblick auf die Pressefreiheit auszulegen und daher in ihrer die Pressefreiheit konkret beschränkenden Wirkung selbst wieder einzuschränken. Vergleichbares gilt, wenn das Grundrecht der Pressefreiheit mit einem anderen Grundrecht, insbesondere dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht kollidiert.

Natürlich wurden und werden auch in Deutschland Medien völlig zu Recht vom Bundesgerichtshof und den Instanzgerichten wegen Persönlichkeitsrechtsverletzungen verurteilt. Wenn Zeitungen oder Zeitschriften Meldungen erfinden und diese an prominenter Stelle veröffentlichen, ist es völlig richtig, daß ihnen dieses untersagt wird und sie zur Richtigstellung oder Widerruf verurteilt werden sowie zum Ausgleich für die fortwirkende schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung eine angemessene Geldentschädigung zahlen müssen. Der daraus vielfach gezogene Schluss, daß Persönlichkeiten, über die in den Medien berichtet wird, grundsätzlich vor den Medien geschützt werden müssten, ignoriert aber die durch unsere Verfassung als Grundpfeiler unseres freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens gewährleistete Presse- und Rundfunkfreiheit.

Das BVerfG hat auf die Caroline-Entscheidung des EGMR unmittelbar reagiert und den Rahmen für die Beachtung der Rechtsprechung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abgesteckt. So hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass die EMRK nicht über dem Grundgesetz steht. Insbesondere bei anderen Sachverhalten genieße die Konvention nicht automatisch Vorrang vor anderem Bundesrecht. Das hinderte den Bundesgerichtshof trotzdem nicht, seine Entscheidungspraxis weitgehend einseitig an der Caroline-Entscheidung des EGMR auszurichten.

Das Grundrecht der Presse- und Rundfunkfreiheit wird natürlich auch in Europa von keinem ernstzunehmenden Politiker bestritten. Was aber für Folgerungen aus diesem Grundrecht zu ziehen sind, wird höchst unterschiedlich bewertet. Belege dafür sind die Entscheidung der französischen Gerichte in Sachen Albert II. gegen „Paris-Match“ und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen Caroline von Hannover gegen Deutschland. Die in Artikel 10 EMRK garantierte allgemeine Kommunikationsfreiheit steht nach einer in Europa, insbesondere in skandinavischen Ländern verbreiteten Auffassung jedem einzelnen Bürger zu. Sonderregelungen zugunsten der Medien seien deshalb abzulehnen. Medien können ihrer Aufgabe als „öffentlicher Wachhund“ in einer Demokratie aber nur dann nachkommen, wenn ihnen dafür wie in Deutschland aufgrund der objektiv-rechtlichen Seite der Pressefreiheit auch die dafür notwendigen „Zähne“ gegeben werden.

Ob europäische Justiz recht oder schlecht für die Pressefreiheit wird, hängt deshalb davon ab, ob wir den Willen und die Ausdauer haben, statt unkritischer Hinnahme nicht selten politisch motivierter europäischer Gerichtsentscheidungen auf allen Ebenen erfolgreich politische und juristische Überzeugungsarbeit für das deutsche Medienrechtsmodell zu leisten. Dieses nimmt zwischen dem sehr liberalen, die Persönlichkeitsrechte nur nachrangig ansehenden britischen Presserechtsmodell und dem außerordentlich restriktiven französischen Modell eine ausgewogene Mittelposition ein.

[Gastbeitrag in der Main Post vom 18. September 2007, Seite 2]