Panel III 21.10.2004: Statement Dietrich Schlegel, Reporter ohne Grenzen „Reporter ohne Grenzen“, kurz ROG, ist eine 1985 in Paris gegründete, international aktive regierungsunabhängige Menschenrechtsorganisation zur Verteidigung und Wahrung des Rechts auf Meinungs- und Informationsfreiheit, wie es in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948 verankert wurde. ROG folgert aus Art. 19 drei Richtlinien für ihre Arbeit: Pressefreiheit ist ein Menschenrecht – Keine Freiheit ohne Pressefreiheit – Ohne Pressefreiheit keine Demokratie. Diese Prinzipien sind keine wohlfeilen Slogans für Feiertagsreden oder inhaltsleere Worthülsen für Verfassungen. Sie müssen tagtäglich verteidigt und erkämpft werden. Etwa die Hälfte aller UNO-Mitgliedstaaten missachtet Artikel 19, das heißt: zwei Drittel der Menschheit muss auf Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit verzichten. Die Unterdrückung oder Beeinträchtigung dieses Menschenrechts wird mit den verschiedensten, brutalen bis subtilen Methoden praktiziert – von staatlicher bis selbst verordneter Zensur, von willkürlichen Verhaftungen ohne Gerichtsverfahren bis zur Misshandlung oder gar Ermordung von Journalistinnen und Journalisten. All dieser Fälle und Vorkommnisse nimmt sich ROG nach sorgfältiger Recherche an, oft im Verein mit anderen Menschenrechts- und Journalistenorganisationen. Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Grundlage und Ausgangspunkt dieser Konferenz, ist im Grunde nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Bekräftigung des Postulats des Art 19 der Menschenrechtserklärung der UNO für die Unterzeichnerstaaten der EMRK. Folglich kann Art. 10 ebenso wenig als „Luxus“ verstanden werden wie sein Vorbild. Die wichtigere Frage steht im zweiten Teil des Konferenzthemas: Stellt Art. 10 eine Vorbedingung für eine freie und unabhängige Medienberichterstattung dar, in unserem Falle in den Staaten Südosteuropas? Beim Versuch einer Antwort erhebt sich sogleich eine weitere Frage: Werden nicht auch in allen Verfassungen der Transformationsstaaten Ost- und Südosteuropas Meinungs- und Medienfreiheit „garantiert“, ohne dass in diesen Staaten von durchgängiger freier und unabhängiger Berichterstattung die Rede sein kann? Wie steht es dann in diesem Zusammenhang mit der aus Art. 10 deduzierten Verpflichtung der Staaten resp. Regierungen, Behörden, öffentlichen Institutionen, Journalisten freien Zugang zu Informationen zu verschaffen, die sie für ihre Recherchen als unerlässlich ansehen? Wenn ich richtig informiert bin, gibt es entsprechende Gesetze (englisch zutreffend knapp Access to Public Information Act) in mindestens sieben Staaten Südosteuropas: in Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Moldova, Rumänien und Slowenien, auch in Albanien und Kroatien, wo die Informationspflicht der Regierung zusätzlich zu entsprechenden Gesetzen sogar in der Verfassung steht. Aber wie steht es in der Praxis mit der Implementierung der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Zusicherung des Informationszugangs? Bleiben wir als Beispiel beim letztgenannten Staat, bei Kroatien, aussichtsreicher Anwärter der dritten Reihe auf eine EU-Mitgliedschaft. SEEMO kommt im Jahresbericht 2003/204 zu dem Schluss, „that the Croatian legal system protects the right of journalists to access to information to the maximum extent doesn’t mean much in practice“. Bei ihrer täglichen Arbeit sehen sich die Journalisten zahlreichen Schwierigkeiten und Hindernissen gegenüber, wenn sie sich bei Regierungsstellen Informationen beschaffen oder nachprüfen wollen. SEEMO hat beobachtet, dass trotz aller verfassungsmäßigen und gesetzlichen Garantien zur Informationsbeschaffung kaum ein kroatischer Journalist versucht habe, sein Recht einzuklagen, da solche Gerichtsverfahren in der Regel äußerst langwierig verliefen, Informationen jedoch eine „leicht verderbliche Ware“ seien. In Albanien – um ein weiteres Beispiel zu nennen – reichten im Oktober 2003 fünf Medien-. und Menschenrechtsorganisationen beim Verfassungsgericht Klage gegen eine nie veröffentlichte Anordnung des Ministerpräsidenten ein, nach der allen leitenden Regierungsbeamten untersagt worden sei, offizielle Informationen jedweder Art an Medien weiter zu geben. Fünf Tage vor der ersten Anhörung durch das Gericht hatte der Ministerpräsident diese Anordnung zurückgezogen. Das Gericht erklärte den Fall als strittig („moot“) und verweigerte eine weitere Beratung. Dennoch kann die Klage als Erfolg für die Medien betrachtet werden. Auch unser bulgarischer Kollege Alexey Lazarov hatte (wie er uns berichtete) eine – gegen das Pressebüro des Ministerrats gerichtete - Klage auf Herausgabe von Informationen eingereicht. Eine nicht erwartete Folge war die Verschärfung der Ausführungsgesetze zum Public Information Act, nämlich der Gesetze zum Schutz klassifizierter, also geheimer Informationen, und zum Schutz persönlicher Daten. Solche Gesetze haben sicher ihre Berechtigung, existieren in allen Rechtsstaaten und sind auch durch Ziffer 2 des Art. 10 ERMK gedeckt. Die Frage ist nur, wie sie ausgelegt und angewendet werden. Und hier beklagt SEEMO auch für Bulgarien einen big gap, eine Tendenz der Exekutive und Legislative von der nationalen bis zur lokalen Ebene, besonders aber auch dem Justizapparat, zur Missachtung der gesetzlichen Informationspflicht. Nur durch öffentlichen Druck können Verbesserungen und Transparenz erzielt werden. In Bulgarien befasst sich damit eine spezielle NGO mit dem programmatischen Namen „Access to Information Programme“, die als Vorbild auch für andere Länder in OE und SOE dienen könnte, denn bei allen lokalen oder nationalen Unterschieden gleichen sich die Probleme in diesem Punkt. Das gilt nicht nur für die Informationspflicht der Staaten und seiner Institutionen. Überall in OE und SOE werden investigative Journalisten massiv aus der kriminellen Szene bedroht. In die mafiösen Strukturen einzudringen, vor allem wenn sie mit den politischen Strukturen verfilzt sind – und das ist nicht selten der Fall - , ist in allen Ländern der Region für Journalisten mit höchstem Risiko an Leib und Leben verbunden. SEEMO, ROG, CPJ (Committee for Protection of Journalists) veröffentlichen ständig Meldungen über Kolleginnen und Kollegen, die mit telefonischen Drohungen eingeschüchtert oder gar von Schlägertrupps zusammengeschlagen werden. Polizei und Ermittlungsbehörden fassen die Täter und ihre Auftraggeber nur in den seltensten Fällen, und falls doch, verlaufen die Gerichtsverfahren im Sande. Eine negative Gemeinsamkeit anderer Art in der gesamten Region stellen die Gesetze über Verleumdung (libel) und Diffamierung (defamation) von Bürgern, in besonders scharfer Form von staatlichen Funktionsträgern, dar. Die ursprüngliche Funktion solcher Gesetze als Schutz der Ehre und des guten Rufes wird völlig pervertiert. Jeder Funktionär, aber auch jeder Gangsterboss kann sich mit Hilfe dieser Gesetze gegen journalistische Enthüllung und Kritik zur Wehr setzen und bekommt in der Regel auch noch Recht, während die Journalisten und ihre Verleger zu hohen Geldstrafen, in einigen Staaten sogar mit Haft oder Arbeitslager bestraft werden. In manchen Staaten ist es durch Druck der Journalistenorganisationen, zum Teil mit westlicher Hilfe, gelungen, dass solche Gesetze wenigstens aus dem Strafgesetzbuch (Criminal Code) in das Zivilrecht (Civil Code) übernommen wurden und somit investigative Berichterstattung nicht mehr als kriminelles Delikt gebrandmarkt werden kann. Aber die Geldstrafen sind nach wie vor enorm hoch und existenzbedrohend sowohl für die Journalisten als auch die Verlage. Es liegen Hunderte solcher Fälle vor, aber dieses Thema hat offenbar im westlichen Ausland noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Zur Ausgangsfrage zurückkehrend möchte ich abschließend wiederholen: Art. 10 EMRK ist keineswegs ein Luxusartikel, sondern ein Postulat, auf das sich die Medien und einzelne Journalisten berufen können, und zwar nicht nur hinsichtlich der staatlichen Pflicht zur Information, sondern so generell wie auf Art. 19 der UNO-Menschenrechtsklärung – ob mit Erfolgsaussichten hängt von der jeweiligen politischen und rechtlichen Situation ab. Art. 10 stellt jedoch nicht die alleinige Voraussetzung für eine freie und unabhängige Medienberichterstattung in SOE im Sinne unseres Themas dar, sondern ist eine Voraussetzung unter anderen. Zu ihnen zählen die Fortschritte im Transformationsprozess dieser Staaten und Gesellschaften und die Beseitigung der demokratischen und rechtsstaatlichen Defizite. |